Gebet und Meditation im Coaching

Martin Emrich hat an alles gedacht, als er das Leadership Training in Guinea beginnt. Das Training auf Französisch, in Afrika, in einem der ärmsten Länder der Welt. Der Bildungsstand der Teilnehmer, die Vorerfahrungen mit Trainings, die Bedenken der Teilnehmer gegenüber einem europäischen Trainer. Nur an ein Detail hatte er nicht gedacht:, die Salāt, das rituelle Gebet. Die Teilnehmer bitten Martin schnell, die Agenda um die Gebetszeiten herum zu planen. Von nun an wird das Training regelmäßig unterbrochen, die Teilnehmer rollen Ihre Gebetsteppiche in Richtung Mekka aus und beten. Tatsächlich beschreibt Martin das Training als außerordentlich erfolgreich, mit einigen Teilnehmern hat er heute noch Kontakt.

Die Frage steht im Raum: Hat das regelmäßige Beten aller Teilnehmer zum Erfolg des Trainings beigetragen? Ist die besondere Wirksamkeit auf die regelmäßigen Unterbrechungen durch Gebete zurückzuführen? Und wenn ja, soll – oder muss man – sich das im Trainings- und Coaching-Prozess zunutze machen?

Gebet und Meditation

Die Gleichsetzung von Gebet und Meditation ist untypisch und bedarf der Erklärung.
Als Coaches interessiert uns weniger der religiöse Aspekt des Betens. Nicht etwa, weil Religion nicht von Bedeutung wäre. Der Glaube kann eine große Hilfe sein, Richtung geben und Lebenszweck.
Die Forschung über die Wirksamkeit von Gebeten und Religion führt aber naturgemäß nie zu einem von allen Seiten anerkannten Ergebnis. Daher liegt der Fokus hier nicht auf der Wirkung von Gebeten auf eine dritte Person (für die gebetet wird), sondern darauf, welchen Einfluss sie für den Betenden selbst hat.

Was uns hier interessiert, ist das bewusste Zeitnehmen zur Introspektion und Kontemplation. Eine kleine Pause – oft verbunden mit einem Ritual. Eine Pause von den Tagesaufgaben, hin zu Ruhe, zur Zeit mit sich selbst. Dies kann durch Gebet und Meditation, aber auch durch ganz andere Tätigkeiten, wie z.B. einen Waldspaziergang, durch Yoga, oder einem Gespräch mit einer vertrauten Person sein. Häufig werden diese auch als Mind-Body-Techniken zusammengefasst: Der Körper kann positiven Einfluss auf den Geist nehmen und umgekehrt, beispielsweise durch eine Meditation (Geist), der auch zu einer Entspannung des Körpers führt und umgekehrt („mens sana in corpore sano“).

Wirkung von Mind-Body-Techniken

Gebet und Meditation sind alltägliche Unterbrechungen, die man sich aneignen kann. Solche Unterbrechungen haben sich im Kontext von Lernen (Trainings) und Weiterentwicklung (Coaching) als hilfreich erwiesen.

Die Wirkungen sind vielfältig und wissenschaftlich gut belegt. In diesem Zusammenhang ist dabei das Zusammenspiel von zwei typischen Entscheidungsmechanismen in unserem Gehirn besonders interessant: den intuitiv-emotionalen Handlungen im sog. Limbischen System und den rational-kognitiven Impulssteuerungen im sog. Präfrontalen Cortex.

Intuitiv-emotionale Handlungen

Sensorische Impulse werden im sog. limbischen System („primitive Säugerhirn“) verarbeitet. Dies sind unterschiedliche entwicklungsgeschichtlich alte Hirnareale, die funktional zusammengefasst werden, da sie zusammen an der Impuls- und Emotionsverarbeitung beteiligt sind.

Die Verhaltensweisen im limbischen System laufen beispielsweise so ab: Ein Mensch sieht eine gebogene Form im Gras und entscheidet, vor der vermeintlichen Schlange zu fliehen, sie zu bekämpfen oder sich erstmal tot zu stellen. Stress steigt, Sinne werden geschärft, im Augenblick unwichtige Prozesse werden eingestellt. Dies geht instinktiv und bedarf weniger Energie – die Überlebensmechanismen der Natur! Vielleicht schlage ich wie wild auf die Schlange ein.

Rational-kognitive Impulssteuerung

Parallel wird aber ein zweiter Prozess im präfrontalen Cortex („entwickeltes Säugerhirn“) angestoßen: „Ist es wirklich eine Schlange oder vielleicht ein Schlauch? Oder ein Blindschleiche? Welche gelernten Strategien könnten helfen?“

Diese Prozesse können dann die Initialhandlungen übersteuern. Besteht die Gewissheit, dass es ein Gartenschlauch und keine Schlange ist, sinkt alleine durch diese Erkenntnis das Stresslevel wieder. Und der Mensch schlägt nicht auf den Gartenschlauch (oder die arme Blindschleiche) ein.

Ermöglicht wird dies durch einen Teil des Gehirns, das als letztes, erst beim erwachsenen Menschen, fertig entwickelt wird – dem Präfrontalen Cortex („Stirnhirn“). Dieser vordere Teil der Hirnrinde ist unsere ausgeklügelte Kommandozentrale. Hier finden Problemlösungen auf Basis von Erfahrungen, Prioritätensetzungen und alle Arten von Handlungsplanungen statt.

Mind-Body-Techniken und Entscheidungsaktivitäten

Bewusste alltägliche Unterbrechungen können positive Auswirkungen auf beide Arten von Entscheidungsprozessen haben, die Qualität dieser Entscheidungsfindungen verbessern und somit zu einer besseren Selbststeuerung führen.

Der Einfluss auf emotional-intuitive Entscheidungen geschieht durch ein Phänomen, das in den letzten Jahren als Neuroplastizität weltweit für Aufsehen gesorgt hat. Unser Gehirn verändert sich bis zu unserem letzten Atemzug, unsere Gehirnzellen wachsen laufend nach. Noch viel entscheidender: Die Verknüpfungen zwischen den Zellen (Synapsen) passen sich laufend den Anforderungen an und finden neue Lösungswege. Das bedeutet, eine Veränderung ist in jedem Alter möglich!

So konnte nachgewiesen werden, dass regelmäßige Meditation messbare physische Veränderungen im Hirn mit sich bringt – und das schon nach acht Wochen. Zum einen wächst die „graue Substanz“, die nicht nur mit Intelligenz, sondern auch mit Mitgefühl in Verbindung gebracht wird. Zum Zweiten verringert sich die Größe der „Amygdala“ – diese Mandelkerne (wir haben zwei davon) sind Teil des limbischen Systems und spielen eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung von negativen Emotionen wie Furcht und Ärger. Eine Reduzierung führt also aller Wahrscheinlichkeit nach dazu, dass wir weniger aufbrausend und aggressiv sind und weniger häufig die Fassung verlieren. Oder, dass wir im Zweifel erst gar nicht auf die Blindschleiche einschlagen wollen…

Den Einfluss von alltäglichen Unterbrechungen auf die rational-kognitiven Prozesse haben wir vermutlich alle schon selbst beobachtet. So ist z.B. ein einfacher, aber sehr mächtiger Praxistipp aus dem Business Coaching, Antworten auf emotionale E-Mails nicht sofort zu versenden, sondern eine Nacht darüber zu schlafen. In der Regel wird man den Text dann am nächsten Tag abschwächen. Der Grund dafür ist die Überbewertung der augenblicklichen Emotionen. Sobald man etwas Abstand gewonnen hat und die Emotionen auf ein Normalmaß reduziert sind, ist man sehr wohl in der Lage, das richtige Maß für die Antwort zu finden. Alltägliche Unterbrechung hilft.

Selbstcoaching durch Mind-Body-Techniken?

Theoretisch ist dann natürlich auch ein Selbstcoaching alleine durch die passende Mind-Body-Technik denkbar. Gebet und Meditation können die nachhaltige persönliche Weiterentwicklung verbessern, dass sie aber alleine zum Ziel führen ist eher unwahrscheinlich. Der erste Buddha soll jahrelang allein unter einer Pappelfeige meditiert haben, um Erleuchtung zu erlangen. Für die meisten von uns wird jahrelange Meditation aber eher nicht in die augenblickliche Lebensplanung passen…

Zudem entstehen häufig Situationen, in denen man selbst nicht mehr darauf kommt, diese Unterbrechung herbeizuführen. Das populäre Bild hierfür ist das Hamsterrad, in dem der Betroffene dann immer schneller läuft, anstatt einen Schritt heraus zu treten und die Situation zu interpretieren. Dann ist ein externer Impuls gefragt, um den Betroffenen in eine Situation zu versetzen, in der er/sie wieder selbst analysieren kann.

Der externe Impuls kann von einem zertifizierten Business Coach kommen. Der Vorteil liegt im vorhandenen Wissen über Veränderungsprozesse und in der Neutralität. Somit kann er den Betroffenen einen „Blick von außen“ und ehrliches Feedback geben. Dabei muss das Ziel immer sein, Betroffene wieder selbst in die Lage zu versetzen, eigene Entscheidungen zu treffen. Daher ist der Coach gehalten, alle unterstützenden Elemente zu prüfen und gegebenenfalls anzuwenden – insbesondere auch die Unterstützung durch Mind-Body-Techniken außerhalb des eigentlichen Coachings.

Fazit:

Trotz steigendem Wohlstand und weitreichenden Weiterentwicklungen werden die Menschen, laut aktuellen Umfragen, nicht glücklicher. Die Welt geht Ihren Gang, darauf hat der Einzelne wenig Einfluss. Was wir beeinflussen können, ist der Umgang mit diesen Veränderungen und Reaktionen darauf.

Die Reflexion und Kontemplation, also der ehrliche Blick in das eigene Innere, helfen beim Erforschen geeigneter Lösungen. Diese zu finden ist ein laufender Prozess, für den wir letztendlich selbst verantwortlich sind. Die Unterbrechung des Alltags ist eine wichtiges Element, vermutlich sogar eine Voraussetzung für diesen Blick nach innen.

Gebet und Meditation stellen eine solche bewusste Unterbrechung im Tagesgeschehen dar. Die zugehörigen Riten und die Regelmäßigkeit unterstützen die Nachhaltigkeit. Die Veränderungen können dabei nicht nur im Bereich von bewussten Handlungsstrategien liegen, sondern gehen sogar soweit, dass durch physische Veränderungen unangenehme Geschehnisse von außen gar nicht mehr mit der gleichen Wucht erlebt werden können.

Das reine Wissen darüber, wie dies geschehen kann ist eine Voraussetzung, reicht aber keinesfalls aus, um nachhaltige Veränderungen herbeizuführen. Wir wissen ja eigentlich, dass wir keinen Alkohol trinken sollten und tun es trotzdem. Wer sich weiterentwickeln will, braucht externe Impulse, den Blick über den Tellerrand hinaus. Hier kann Coaching ganz erstaunliche Impulse setzen.

Der Coach, der seinen Kunden ja darin unterstützen will, bessere Lösungen für sich zu finden, wird daher Mind-Body-Praktiken als Lösungshilfen im Hinterkopf behalten und gegebenenfalls erwähnen – als Stimulus für die Gedanken des Kunden. Ob dieser sie dann aber einsetzt oder nicht, bleibt wie immer ihm überlassen.

Daher schließen wir auch nicht mit einem Ratschlag, sondern mit einem Zitat zum Nachdenken:
„Meditiere jeden Tag 10 Minuten. Es sei denn, Du hast keine Zeit. Dann meditiere 30 Minuten!“
(Buddhistische Weisheit)

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichten wir auf die gleichzeitige Verwendung weiblicher und männlicher Sprachformen.

Dr. Martin Emrich, Andreas Ruf

Die Autoren sind beide zertifizierte systemische Business Coaches. Als getaufte Christen haben sie das Beten von Kind an schätzen gelernt. Darüber hinaus haben beide vielfältige Erfahrungen mit der Meditation. Andreas hat die Meditation von der katholischen Ordensschwester Rafaelis gelernt und im buddhistischen Kloster Lawudo in Nepal vertieft. Neben Gebeten und Meditation nutzen beide Coaches regelmäßig die Diskussion miteinander, um die effektivsten Methoden für Ihre Coachings herauszufinden – in Coronazeiten natürlich bei Waldspaziergängen und beim Langlauf…

Dr. Martin Emrich ist zertifizierter Systemischer Business Coach (International Coaching Association) und bildet mit seinem Ausbilder-Team seit 15 Jahren Coaches aus.

Er ist promovierter Diplom-Psychologe und mehrfacher Bestseller-Autor mit über 50 Veröffentlichungen. Er arbeitet weltweit als Keynote-Speaker und Executive Coach in 5 verschiedenen Sprachen und lebt in Stuttgart.

emrich@emrich-consulting.de
https://www.emrich@emrich-consulting.de

Andreas Ruf (Dipl. Kfm.) ist zertifiziert als Systemischer Business Coach (ICA), Trainer (ICA) und Mediator (IHK).

Nach 25 Jahren in der Wirtschaft hat er des eigenen Wirtschaftsunternehmen verkauft und unterstützt nun selbst Familienunternehmen im Bereich Nachfolge, Personalentwicklung und Organisation als Coach und Beirat.

andreas@andreas-ruf.com
www.andreas-ruf.com

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